Home > Allgemein > “Theresienstadt, das ist in meiner Familie immer ein Schreckenswort gewesen” – von Christof Eberstadt

    Dr. jur. Ludwig Maximilian Eberstadt

    1879 bis 1945

    Theresienstadt, das ist in meiner Familie immer ein Schreckenswort gewesen. Und es ist für alle Zeiten mit einem unerhörten Unrecht verbunden, das München gegen meine Familie begangen hat. Sie haben 1942 meine Urgroßmutter Hermine Eberstadt, geb. Masbach geholt, und deren Tochter, Anna Ansbacher geb. Eberstadt, also die Schwester meines Großvaters. Und dann haben sie am Ende, im Februar 1945, unseren Cousin, den Kölner Landgerichtsrat Dr. jur. Ludwig Eberstadt gefangen genommen. An ihn möchte ich heute erinnern.

    Nach Jahren der Unterdrückung in Köln (dort lebte er in sogenannter „privilegierter Mischehe“) war Ludwig Eberstadt im Januar 1945 auf der Flucht vor den mordgierigen Schergen des Systems nach München ausgewichen, wo seine Tochter seit 1940 in der Kattenstr. 4 gelebt hat; auch seine Ehefrau Liese war dort seit einigen Monaten untergekommen *). Den erhofften Schutz hat er nicht gefunden: ein „Volksgenosse“ an gleicher Adresse verriet seinen Aufenthalt an die Behörden und am 17. Februar stand die Gestapo vor der Haustür. Leugnen der Tochter nutzte nichts, die Durchsuchung war kurz und erfolgreich: man brachte Ludwig Eberstadt in das Gestapo-Gefängnis in der Türkenstrasse. Dort hat die Tochter den Vater noch einmal besuchen können. Es war ein Abschied für immer, aber das war ihnen nicht bewusst.

    Eberstadt wurde am 22. Februar 1945 mit dem letzten Münchener Transport II / Nr. 35 nach Theresienstadt verschleppt. Er trug die Transport-Nr. 1415 und war damit der letzte Jude, der München auf solche Weise verlassen musste. Ein kleiner Junge war mit im Waggon: der heute hier anwesende Ernst Grube.

    Eberstadt erlitt bei Ankunft im Ghetto einen Nervenzusammenbruch und man brachte ihn in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses im Block E VI – Hohenelber Kaserne, die sich in den fensterlosen Räumen der Kasematten unter dem Ringwall befand (Block E II , Kavalierkaserne).

    Dort hat das Krankenhauspersonal ihn am 25. Februar das letzte Mal gesehen, er saß angeblich vor dem Gebäude in der Sonne. Seitdem ist er verschwunden.

    *) So die mir vorliegenden Informationen. Die Lage der Kattenstraße in Großhadern habe ich bis heute nicht klären können.

    Das konnte in München natürlich niemand wissen: die Familie hat zwei Monate lang jeden von Theresienstadt kommenden Zug nach ihm abgesucht, und im Juli fuhr der Sohn mit einem Freund dorthin. Die Verwaltung des gewesenen Lagers erläuterte ihm die Fakten, dass nämlich der Vater am 26. März aus dem Bestand des Lagers genommen worden ist, weil er nicht mehr aufgetaucht sei, mit der Anmerkung „Flucht“.

    Das spurlose Verschwinden veranlasst Hinterbliebene regelmäßig, schrecklichen Fantasien ihren Lauf zu lassen. Das war hier nicht anders. Ich persönlich stelle mir vor, dass es Ludwig Eberstadt an jenem Tag besser ging und er den Beschluss gefasst hatte, Kontakt mit seiner ebenfalls aus München vertriebenen Kusine Anna Ansbacher aufzunehmen. Von dieser hatte die Familie durch eine Postkarte erfahren, und dass die Mutter am 25. Dezember 1942 gestorben war. Von der Angabe auf der Postkarte wusste man, dass Annas Wohnadresse Badhausgasse 12 lautete. Dort angekommen, wird man ihm dann wohl berichtet haben, dass Anna drei Wochen zuvor, am 5. Februar, mit dem Zug ausgereist war. (Ob den Ghettobewohnern bekannt war, dass der Zug tatsächlich in die Schweizer Freiheit gefahren war, und nicht -wie vielfach befürchtet- in ein Vernichtungslager dirigiert worden ist, das wissen wir nicht.)

    Man kann auch nicht ansatzweise nachfühlen, wie niederschmetternd diese Nachricht für ihn gewesen sein muss!

    Ich halte es für möglich, dass sich Ludwig Eberstadt in seiner Verzweiflung erst einmal versteckt hat und kurz danach in der Kälte des Februars 1945 erfroren ist.

    Nicht von der Hand zu weisen und genauso wahrscheinlich ist es, dass der Flüchtende entdeckt und erschossen worden ist. Dass er die Festungsmauern unerkannt überwunden hat, das halte ich für ausgeschlossen. Man kann durchaus mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der unbekannte Tote innerhalb der Festungsmauern aufgefunden wurde, dass der Leichnam wegen der Seuchengefahr schnellstens im Krematorium verbrannt, und dass schließlich die Asche in einem der anonymen Begräbnisfelder des Theresienstädter Friedhofs ausgestreut wurde.

    Christof Eberstadt

    Erlangen, am 1. Dezember 2019

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